Nikolai von Wurzbach (40) schildert in dieser Serie seinen Kampf gegen die Leukämie. Nach massiven Beschwerden traf ihn im Alter von 24 Jahren die Diagnose “Leukämie” wie ein Hammerschlag. Er unterzog sich daraufhin einer schmerzhaften, aber lebensrettenden Chemotherapie, in deren Verlauf er den Krebs schließlich besiegte. Er gilt als geheilt und lebt heute mit Familie in Soest.
Weiterer Verlauf und Ende der zweiten Chemo
Mein Leben wurde durch die Diagnose auf den Kopf gestellt und meine Lebensauffassungen gewichten sich um – das ist wahr. Ich habe während der Behandlung das Gefühl, etwas nachholen zu können und nichts zu versäumen. Ich kann mich zurücklehnen, entspannen, besinnen, nachdenken, mich in mir umschauen, zu mir selbst kommen. Wann hat man dazu schon Zeit? Um diese Möglichkeit beneidet mich wegen der Leukämie sicher niemand, keine Frage, aber da ich diese Krankheit nun einmal habe, versuche ich sie als Chance zu nutzen. So lange Fingernägel wie jetzt hatte ich noch nie. Der Preis für diese Ruhe ist hoch.
Während der nächsten Isolationswoche erfahre ich, was es bedeutet, krank und hilflos zu sein: ich bekomme eine Blutvergiftung. Noch nie habe ich solche Schmerzen erlebt. Jede Bewegung ist eine Qual. Ich kann mich kaum rühren, heule vor Schmerz und Verzweiflung.
Mein Körper ist wie ein Klumpen entzündetes Fleisch, eine einzige Wunde. Ich bin reduziert auf Schmerz. Besonders schlimm sind die Atemprobleme am Wochenende. Ich kann nur noch schwer Luft einholen. Jeder Atemzug reißt in mir. In kritischen Momenten bekomme ich eine Sauerstoffmaske umgeschnallt. Zu allem Übel flackern therapiebedingte Herzprobleme auf. Stiche in der Brust. Das Fieber zehrt. Stumpfes, jämmerliches Erdulden. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will aus meiner Haut. Ich kann nur darauf warten, dass die Antibiotikainfusionen bald wirken und die Erreger, die diesen widerlichen Zustand verursachen, abtöten. Mittlerweile kann ich nichts mehr tun ohne fremde Hilfe. Ich kann nicht einmal mehr aufrecht stehen. Meine Notdurft verrichte ich in oder an meinem Bett. Alles Schmerz und Mühe. Bleierne Schwere. Ganz klein bin ich, ein wimmerndes Bündel, dem ständig geholfen werden muss. Ich werde gewaschen, gebettet, gewendet. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, sich so eingeschränkt zu erleben. Das Pflegepersonal und die Ärzte bemühen sich rund um die Uhr, meinen Zustand zu verbessern. Im Laufe der Woche lagert mein Körper Flüssigkeit ein wie ein Schwamm. Ich kann sie nicht mehr richtig ausscheiden. Ein Medikament soll mir dabei helfen. Nach einigen verschwommenen Tagen schlägt die Antibiose an… Endlich.
Endlich Besserung. Ich bin unendlich schwach. Die Sepsis hat eine Woche lang gewütet und großzügig von meiner Substanz gezehrt: ich wiege noch 59 Kilogramm. Eingeliefert wurde ich mit 74 Kilogramm. Die Knochen bohren sich aus meinem Körper. Wenn ich mich setze, schmerzt mein Hintern, da ich direkt auf dem Beckenknochen sitze. Insgesamt fühle ich mich gut, da es täglich und stetig bergauf geht. Ich habe mich nicht in Luft aufgelöst, bin noch da. Erschöpft, erleichtert, geschafft. Geschafft!
Die Zeit meines zweiten Krankenhausaufenthalts steht in starkem Gegensatz zu den Ereignissen der Erholungsphase danach. Der Strudel des normalen Lebens erfasst mich wieder.
Schon die erste Fahrt mit dem Auto zurück nach Hause empfinde ich so überschnell, als hätte ich mich in den Wochen vorher nur in Zeitlupe bewegt.
Der Frühling steht in voller Blüte. Er duftet wie frische Wäsche. Ich bin beeindruckt vom satten Grün der Bäume und Sträucher und werde ruhig. Es ist wunderbar, in der Sonne zu spazieren und ruhig und schmerzfrei Luft holen zu können. Ich lebe.