Nikolai von Wurzbach (40) schildert in dieser Serie seinen Kampf gegen die Leukämie. Nach massiven Beschwerden traf ihn im Alter von 24 Jahren die Diagnose “Leukämie” wie ein Hammerschlag. Er unterzog sich daraufhin einer schmerzhaften, aber lebensrettenden Chemotherapie, in deren Verlauf er den Krebs schließlich besiegte. Er gilt als geheilt und lebt heute mit Familie in Soest.
Abschied vom Krankenhaus
Ein Todesfall auf der Station und ein Zeitungsartikel über Leukämie bringen mich wieder auf die Gedanken an einen Rückfall. Die schwelende Angst vor der Rückkehr der Leukämie sitzt mir doch immerwährend im Nacken. Statistisch betrachtet erleiden derzeit etwa 70 Prozent der Patienten meines Leukämieprofils einen Rückfall. Natürlich gehe ich davon aus, zu den 30 Prozent der für immer Geheilten zu gehören. Ich versuche einfach, meinen guten Zustand Tag für Tag fortzuschreiben. Nur so ist die Wirklichkeit der Leukämie für mich derzeit tragbar. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch an 30 Prozent.
Das Wimmern und Schluchzen der Angehörigen des Verstorbenen gemahnen aber an den tiefen Ernst der Situation. Die Zimmertür des Toten wird wie während der letzten Tage seines Siechtums stets geschlossen. Trotzdem ist sein schmerzerfülltes Stöhnen, obwohl unaufdringlich, überall auf der Station zu hören. Es ist wie ein flüsternder Spuk, der doch jeden zu gruseln vermag, auch wenn das Stationspersonal ihn durch die geschlossene Tür vor uns anderen Patienten zurückzuhalten versucht. Aber keiner hier will den Tod deutlich vor Augen haben. Auch nicht die Ärzte und Pfleger. Niemand auf der Station mag den Tod. Er bedeutet Niederlage.
Am Montag nach meinem Geburtstag werde ich überraschend entlassen, da meine Blutwerte den entscheidenden Sprung nach oben machen. Ich war schon ganz ungeduldig und wollte endlich raus aus meinem Gefängnis. Prompt habe ich es aber gar nicht mehr so eilig, nach Hause zu kommen. Der Arzt, von dem ich mich verabschiede, ist einer der Menschen, die mir das Leben gerettet haben. Das ist sein Job, und nichts scheint für ihn normaler zu sein, als diese Aufgabe pflichtbewusst und hingebungsvoll zu erfüllen. Für mich bedeutet es nichts weniger als das Leben. Abschied. Für immer? Bestimmt. Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Mit einem Mal fällt mir der Abschied schwer. Aus Angst vor dem Draußen. Was erwartet mich dort? Wie wird es im Alltag sein mit der Leukämie? Wird eine Frau sich auf mich einlassen? Werde ich mein Studium nach der langen Unterbrechung erfolgreich beenden? Werde ich später einen Job bekommen und belastbar sein? Werde ich in ständiger Sorge leben müssen? Wird die Leukämie wie ein Makel oder eine Chance sein?
Wieder zuhause. Die passive Stimmung, die ich aus dem Krankenhaus mitnahm, schlägt sofort um in einen Drang nach Aktivität. Jetzt habe ich endlich Zeit für den Sommer. Meine Stimmung bessert sich. Ich bemühe mich, ein möglichst normales Leben zu führen. Kann ich das? Das jetzt beschwerdenfreie Leben entfremdet mich von der Leukämiestation, die ich einmal pro Woche wegen der Blutkontrolle besuchen muss. Die Distanz zu der Station und den anderen Patienten ist gesunder Selbstschutz. Vor allem in solch dumpfen Momenten wie dem, als ich einem Pfleger im Gespräch die traurige Nachricht aus der Nase ziehe, dass mein ehemaliger Zimmernachbar Sven vor wenigen Wochen gestorben ist. Ich bin wie getroffen von einem Schlag in die Magengrube, der mir keinen Schmerz zufügen darf, weil ich es nicht zulasse. Trotzdem bleibt mir die Luft weg. Vor meinem inneren Auge sehe ich die weinenden Eltern. Weg hier, ich will nur noch weg von hier. Mach’s gut, Sven.